Anna ist kein Mensch. Aber sie telefoniert gut

Es gibt Unternehmen, da ruft künstliche Intelligenz schon beim Kunden an. In anderen ersetzt sie Dutzende Berater. Fest steht: Mitarbeiter müssen künftig mehr können.

Zeitungsartikel über „Anna“, daneben liegen Brille und Etui.
Die künstliche Intelligenz wird früher oder später jede Branche verändern, da sind sich selbst Skeptiker und Enthusiasten einig. Nur wie? © Philotheus Nisch für DIE ZEIT

Wenn in Deutschland von künstlicher Intelligenz die Rede ist, dann geht es oft um die Sorge, abgehängt zu werden. Als Wirtschaftsstandort, der nicht mehr mithalten kann mit den USA oder China. Oder als einzelner Arbeitnehmer, dessen Fähigkeiten kaum noch gebraucht werden in einer hoch automatisierten Welt. „KI nimmt uns die Arbeit weg“, titelte vor Kurzem die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. „Bis zu zwanzig Prozent weniger Jobs – wer jetzt schon vor KI zittern muss“, schreibt die Welt. Es stimmt ja auch: Dass in fünf Jahren noch so viele Übersetzer, Illustratoren, Anwälte oder Buchhalter gebraucht werden, wie heute, ist wohl eher unwahrscheinlich. Die Technologie wird früher oder später jede Branche verändern, da sind sich selbst Skeptiker und Enthusiasten einig. Nur wie?

Während noch darüber diskutiert wird, ob künstliche Intelligenz Arbeitsplätze vernichtet oder nur verändert, ob die EU die Technologie genug reguliert oder zu stark, sind viele Unternehmen längst einen Schritt weiter. Laut einer repräsentativen Umfrage des Digitalverbands Bitkom setzt mehr als jedes dritte deutsche Unternehmen inzwischen KI ein, deutlich mehr als vor einem Jahr, da waren es noch zwanzig Prozent.

Wie verändern Algorithmen und Agenten schon heute die deutsche Wirtschaft? Wo setzen Unternehmen künstliche Intelligenz ein, was erhoffen sie sich davon, und was bedeutet das für die Mitarbeiter? Mit diesen Fragen hat die ZEIT vier Unternehmen besucht, ein Start-up, einen Mittelständler, einen Dax-Konzern und eine kleine Werbeagentur. Die Beispiele zeigen, wie sehr KI schon im Arbeitsalltag angekommen ist, und wem das nützt oder schadet.

Der Mittelständler

Man würde sie hier vielleicht nicht erwarten, aber die Zukunft entsteht auch in Delligsen, Niedersachsen, in einem Gewerbegebiet unweit der B3. Hier sitzt die Bornemann Gewindetechnik GmbH. Moritz von Soden, 49, ein vollbärtiger Hamburger, der schnell zum „Du“ übergeht und seinen Kaffee aus einer Fan-Tasse des FC St. Pauli trinkt, hat den Betrieb mit 60 Mitarbeitern 2014 von seinem Schwiegervater übernommen.

Die Firma wurde erfolgreich, wie viele andere deutsche Mittelständler auch: indem sie ein Nischenprodukt optimiert und in die ganze Welt liefert. Die Gewinde, die in Delligsen hergestellt werden, sind in deutschen Zügen verbaut und auf norwegischen Bohrinseln, in Schokoladenfabriken und Flugzeugen.

Dort sollen sie ein sehr spezielles Problem lösen, den „Stick-Slip-Effekt“: Gewöhnliche Gewinde ruckeln manchmal, wenn Spindel und Mutter aneinander reiben. Das ist nervig, weil es quietscht, und teuer, weil der Verschleiß groß ist. Die Gewinde aus Delligsen ruckeln nicht, mit dieser Botschaft haben bisher zwei Vertriebsmitarbeiter bei Unternehmen angerufen, die gewöhnliche Gewinde nutzen, und ihnen erklärt, was Bornemanns Gewindetechnik kann. Klassische Kaltakquise. Irgendwann fragte sich Moritz von Soden: Könnten wir mit künstlicher Intelligenz nicht mehr neue Kunden erreichen?

Wie das funktioniert, kann man sich auf seinem Computerbildschirm angucken. Von Soden öffnet eine Anwendung, die ihm zeigt, wer seine Website besucht hat. An diesem Tag war darunter jemand mit der IP-Adresse des Pharmakonzerns Bayer. „Das ist alte Technik, die benutzen wir seit Jahren“, sagt von Soden, „alles datenschutzkonform.“ Neu ist, dass jetzt KI-Agenten ihre Arbeit aufnehmen. Sie suchen nach Einkäufern, die bei Bayer arbeiten, im Adressbuch des Gewindetechnikers und in öffentlichen Datenbanken. Werden sie fündig, schicken sie den potenziellen Interessenten eine E-Mail mit weiteren Informationen. Und wenn darauf keine Antwort kommt, ruft eine KI beim Kunden an.

Von Soden hat die Stimme „Anna“ getauft. Sie soll klingen wie eine „junge Frau Mitte dreißig“, mit einem „warmen, einnehmenden Ton“; sie soll beraten, aber nichts verkaufen und früh offenlegen, dass sie kein Mensch ist. So steht es im Befehl an die KI. Anna spricht 50 Sprachen, sie kennt alle DIN-Normen für Gewinde, so viel hat sie den meisten Menschen schon mal voraus. In einer Tabelle kann von Soden live verfolgen, wen Anna gerade anruft, und nachher lesen, wie es lief. Der Kontaktierte „scheint mit dem Stick-Slip-Effekt vertraut zu sein“, steht in einem Vermerk der KI. Bei Interesse schlägt Anna ein Beratungsgespräch vor. Spätestens dann übernimmt wieder ein Mensch.

Das System läuft erst seit ein paar Tagen, bisher hat Anna aber jeden Test bestanden. Sie reagiert auch sehr souverän, als von Soden an diesem Nachmittag seine Telefonnummer in das System eintippt und sich als mürrischer Inhaber eines Fischereibetriebs ausgibt („Ich habe eigentlich keine Lust auf irgendwelche Verkaufsgespräche“, „Kennen Sie sich überhaupt aus mit meiner Branche?“). Anna empfiehlt ihm Gewinde, die besonders salzwasserfest sind, und klingt dabei tatsächlich erstaunlich warm und einnehmend. Schließlich vereinbaren die beiden einen Termin.

„KI ist da ein totales Geschenk, wenn man sie richtig einsetzt“

Für Moritz von Soden ist künstliche Intelligenz eine Art Doping für seine Mannschaft. Sie gleicht Arbeitskraft aus, die fehlt, weil sie zu teuer wäre – soll aber niemanden ersetzen, der schon für ihn arbeitet. Aber er sagt auch: Je mehr einfache Aufgaben automatisiert werden, desto höher müssen seine Mitarbeiter qualifiziert sein.

Das betrifft zum Beispiel Jona Post, 23, die bei Bornemann ihre Ausbildung als Kauffrau für Büromanagement gemacht hat. Post steht noch am Anfang ihres Berufslebens, doch viele ihrer Aufgaben sind für künstliche Intelligenz schon jetzt keine Herausforderung mehr. Die Bundesagentur für Arbeit schätzt, dass 75 Prozent der Tätigkeiten einer Bürokauffrau automatisierbar sind. Post macht deshalb gerade zwei Weiterbildungen, eine im Online-Marketing, eine für Prozessmanagement mit KI.

Jona Post half auch, die Kaltakquise-Agenten einzurichten. Von Soden sagte ihr, welche Funktionen er sich wünscht, und Post sprach mit dem Entwickler, machte Hunderte Testanrufe, holte sich Rückmeldungen von Kunden ein. Das erste Feedback sei gut gewesen, sagt sie. Nur manchmal brauche die KI noch zu lange, um zu antworten. „Wir müssen natürlich noch viel finetunen“, sagt von Soden, aber er vertraut der Technik genug, um sie erst mal machen zu lassen. „Ich bin mir sicher, in ein paar Wochen ist das richtig stabil.“

Und was ist mit den Mitarbeitern, die bisher für die Kaltakquise zuständig waren? Von Soden sagt, seine beiden Vertriebsleute, Tim und Sergii, sollten in Zukunft mehr Zeit für die persönliche Beratung haben, „durch die Welt jetten und mit Leuten sprechen, mit denen Bier trinken und Probleme lösen, nicht nur E-Mails schreiben.“ Es werde immer genug zu tun sein. „Dann machen die Leute eben was anderes.“

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